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Wenn einer eine Reise tut…

Reise

VfL Bochum – 1. FC Magdeburg, 32. Spieltag, 4:2 (1:0)

Und dann stehen wir plötzlich doch im Ruhrstadion. Auf der Anzeigetafel leuchtet die 70. Spielminute, der Club liegt mit 1:3 im Rückstand und was sich in der Kurve in brachialen Gesängen entlädt, ist der pure Frust. Mit dem Spielstand hat das allerdings nicht allzu viel zu tun.

Zehn Stunden und 20 Minuten vorher hatte der Wecker geklingelt, um 5:40 Uhr hieß es „Abfahrt“: Ein von Block U organisierter und selbst verwalteter Sonderzug mit 700 Menschen an Bord rollt vom Magdeburger Hauptbahnhof in Richtung Ruhrpott. Schon nach zwei Stunden ist klar: Selten so entspannt gereist. Natürlich wird an der einen oder anderen Stelle ausgelassen gefeiert (wir reden hier immer noch über eine Auswärtstour der Größten der Welt), völlig unkontrolliert über die Stränge schlägt meiner Beobachtung nach aber niemand.

In unserem Abteil werden die ersten Brötchen ausgepackt (Blech und Natur), bei guten Gesprächen mit guten Leuten zieht draußen die Landschaft vorbei. Wir fachsimpeln über die aktuelle sportliche Situation bei uns und anderswo und freuen uns auf das Ruhrstadion. Eine ganz normale Auswärtsfahrt eben, bei der das Flair der alten Waggons und überhaupt das Sonderzug-Erlebnis noch als Bonus obendrauf kommen. Dass das Gefühl in den anderen Abteilen ähnlich ist, kann ich zwar nur vermuten (man spricht ja nicht mit allen anderen 699 Leuten), die fröhliche Stimmung draußen auf dem Gang spricht aber sehr dafür. Kurz vor 11 sind wir am Bochumer Hauptbahnhof.

Die Meute steigt aus und sammelt sich erst einmal gut gelaunt auf dem Bahnsteig, der von etlichen behelmten Polizist*innen in voller Montur gesichert wird. Auch auf dem Nachbargleis hat sich auffallend viel Polizei versammelt. Runter in den Bahnhof dürfen wir nicht, Beamt*innen versperren die Treppe und lassen niemanden durch. Die Vorsänger bitten die Clubfans via Megafon, auf dem Bahnsteig nach hinten durchzurücken, damit wir dann alle gemeinsam und nacheinander den Bahnhof verlassen können. Soweit ich das erkennen kann, ist bis hierhin alles vollkommen ruhig. Die nächsten 20 Minuten passiert dann erst einmal: gar nichts.

Vorne an der Polizeikette werden die ersten Clubfans unruhig, es gibt wohl auch kleine Rangeleien. Was der Auslöser war, kann ich nicht erkennen, weil ich recht weit hinten stehe. Irgendwas muss hier los sein, es ist ja nicht normal, dass man 20, 25 Minuten einfach nur auf dem Bahnsteig rumsteht und sich gar nichts bewegt. Die Atmosphäre wird angespannter. Die Einzigen, die versuchen, die Lage zu beruhigen, sind die Vorsänger. „Bleibt ganz entspannt und geht einfach mal ein paar Schritte weiter nach hinten“, ist die Ansage, die natürlich in keinem Pressetext zu den Geschehnissen auftauchen wird. Dafür müssten halt Journalist*innen vor Ort sein, die objektiv und sachlich über die Lage berichten, statt irgendwo in Hintertupfingen vielleicht mal kurz mit der Polizei zu telefonieren und irgendwas zusammenzuklöppeln, was dann als Clickbait im Netz landet. Sich darüber aufzuregen, ist natürlich müßig, wir wissen ja alle, wie es ist. Nicht wahr, Funke Mediengruppe?

Offizielle Informationen der Polizei zur Situation (z.B. über eine Durchsage oder ähnliches) gibt es übrigens nicht, was die Lage nicht eben entspannt. Mir dämmert inzwischen, dass das hier wohl länger dauern wird, man liest ja viel von Polizeimaßnahmen im Fußballkontext und ist dann immer froh, dass das Gelesene einem selbst bisher in dieser Form noch nicht widerfahren ist. Bis heute. Mittlerweile stehen die Beamt*innen nicht nur vor, sondern auch hinter uns. Unangenehm ist, dass die hintere Reihe sich alle paar Minuten ein paar Schritte auf die Kolleg*innen an der Treppe zubewegt. Der Kessel wird enger. Es ist frisch und zugig auf dem Bahnsteig, irgendwann setzt so fieser Schneeregen ein, zum Glück stehen wir überdacht. Erinnerungen an Unterhaching werden wach, aber da waren wir wenigstens im Stadion.

Derweil macht die Information die Runde (Buschfunk, natürlich), dass wir hier stehen, weil auf der Fahrt wohl Pyrotechnik gezündet wurde. Dem Polizeiaufgebot und der Stimmung nach zu urteilen, müssen dabei mehrere Schulklassen und eine Alpaka-Farm erheblich Schaden genommen haben, vermutlich wurden auch Menschen vergewaltigt und sind sonstige schwere Straftaten im Zug passiert. Da muss einiges an mir vorbeigegangen sein, ich hatte jedenfalls eine sehr entspannte Anreise erlebt. Meinen Nebenstehenden geht es genauso.

Die Polizei beschließt nun offenbar, den Zug zu durchsuchen. Beamt*innen bewegen sich durch die Waggons, was draußen auf den Gleisen für reichlich Unmut sorgt. Auch der größere Teil meiner Sachen liegt selbstverständlich noch im Abteil. Wenn die jetzt mein letztes Brötchen und das noch verbliebene Hanuta einziehen, könnte die Rückfahrt anstrengend werden. Also, für meine Mitfahrer. Spaß aber mal beiseite, zum Lachen ist niemandem zumute. Erst vor ein paar Tagen war schließlich ein Karlsruher Sonderzug durchsucht worden; nicht alles war danach noch an seinem Platz, gut nachzulesen auf dem Twitter-Kanal der Karlsruher Fanhilfe.

Inzwischen stehen wir seit über einer Stunde auf dem Bahnsteig. In weniger als 60 Minuten soll im Ruhrstadion das Spiel angepfiffen werden. Bock auf Fußball habe ich nicht mehr groß, Hoffnung, überhaupt noch was von der Partie zu sehen, sowieso nicht mehr.

Nach der Durchsuchungsaktion bleibt der Zug für die Clubfans verschlossen und es wird gemunkelt, dass jede*r, die oder der versucht, den Zug zu betreten, mit einer Anzeige rechnen kann. Keine Ahnung, ob da was dran ist, aber es sagt schon viel über das Vertrauen in die Staatsmacht, dass man als Fußballfan auf Reisen inzwischen intuitiv davon ausgeht, dass die Polizei so etwas durchziehen könnte. Die abstrusen, neuen „Polizeiaufgabengesetze“ tun ihr Übriges.

Klar ist mittlerweile wenigstens, dass alle 700 Clubfans durchsucht werden sollen. Die Uhr zeigt 12:20 Uhr, noch 40 Minuten bis zum Anpfiff. Die Beamt*innen fragen, wer sich der Durchsuchung freiwillig unterziehen möchte. Diejenigen, die sich melden, werden von zwei Polizist*innen die Treppe heruntergeführt. Hier wird ein öffentlichkeitswirksames Bild erzeugt: Was tatsächlich passiert, ist, dass sich Menschen freiwillig zu einer Durchsuchung bereit erklären. Aussehen tut es aber, als würden Menschen, die eine Straftat begangen haben, von der Polizei abgeführt werden. Die regulären Reisenden auf den Nachbargleisen schauen interessiert. Man stelle sich vor, da wären durch einen dummen Zufall Kolleg*innen, Vorgesetzte, Kund*innen oder was auch immer dabei. Wie erklärt man denen am Montag, dass man einfach nur Zug gefahren ist und dafür von der Polizei so behandelt wird?

Auf Twitter und auch im echten Leben macht derweil die Fanhilfe Magdeburg einen überragenden Job. Wer dort noch nicht Mitglied ist, sollte das dringend nachholen. Via Twitter ist zu erfahren, dass der Anwalt der Fanhilfe mit dem Einsatzleiter im Gespräch ist. Auch zu erfahren ist, was unten im Tunnel so passiert und welche Vorwürfe die Maßnahmen angeblich rechtfertigen sollen. Das klingt zwar alles wenig hoffnungsvoll, trägt aber trotzdem dazu bei, dass es erstaunlich ruhig bleibt. Da sind Leute, die sich kümmern und auf die man sich verlassen kann. Danke dafür, Fanhilfe Magdeburg! Überhaupt muss ich ja vor den gekesselten Clubfans sämtliche Hüte ziehen. Da stehen 700 Menschen auf einem engen Bahngleis, etliche mit zwei, drei Pils im Kopf, vor und hinter uns eine Polizeikette und überhaupt keine Bewegung. Das hätte gut und gerne richtig eskalieren können. Tut es aber nicht, der Besonnenheit der Leute, der beruhigenden Ansagen der Vorsänger und dem Engagement der Fanhilfe sei dank. Durchsagen der Polizei auf dem Bahnsteig in Richtung Clubfans? Nach wie vor Fehlanzeige. Es ist abstrus.

Oben auf dem Gleis bekomme ich eine interessante Frage in Richtung der Beamt*innen mit, die mich ins Grübeln bringt. „Angenommen, im Ruhrstadion zündet jemand eine bengalische Fackel. Kontrollieren Sie dann auch alle 17.000 Anwesenden?“ Das, was hier passiert und das, was auf der Anreise möglicherweise vorgefallen ist, stehen in überhaupt keinem Verhältnis. Der Polizei ist das freilich egal.

Eine neue Info macht die Runde: Kontrolliert werden eh alle, zur Not unter Zwang. Jetzt sind es angeblich diejenigen, die nicht freiwillig mitgehen, die mit einer Anzeige rechnen müssen. Das Problem hier ist: Welche Information man erhält, hängt stark davon ab, welche/n Beamt*in man fragt. Eine offizielle Verlautbarung gibt es ja nicht. An der Stelle ist es sicher auch wichtig, anzumerken, dass diejenigen, die da polizeiseitig auf dem Bahnsteig stehen, auch nicht zu beneiden sind. Die führen Befehle aus. Allerdings ist es bei der Polizei nicht anders als im normalen Leben: Es gibt die, die es geil finden, Macht auszuüben und dann gibt es diejenigen, die auch im Dienst noch Mensch bleiben. In Bochum sind beide Lager vertreten.

Meine Gruppe und ich bewegen uns nun also in Richtung Polizeikette. Um 13:30 Uhr bin ich dann an der Reihe und habe Glück: Ich darf allein die Treppe herunterlaufen. Also, allein in dem Sinne, dass mich nicht zwei Polizist*innen rechts und links am Arm packen. Unten muss ich meine Taschen leeren, die Jacke ausziehen, den Schal ablegen und mich umdrehen. „Beine breit und Arme an die Wand“ lautet das Kommando, ich fühle mich wie ein Schwerverbrecher. Während mich Kollege 1 am Rücken fixiert, tastet mich Kollege 2 gründlichst ab. Ich will es mal so ausdrücken: Sollte es bei der Polizei irgendwann mal nicht mehr klappen, wäre für den jungen Mann eine Karriere als Masseur durchaus eine Alternative. Erneut habe ich übrigens Glück – der Intimbereich wird bei der Aktion weitgehend verschont. Später im Zug hört man Geschichten über (insbesondere weibliche) Clubfans, die in dieser Hinsicht angeblich weniger Glück hatten.

Die ganze Aktion ist gegen 14 Uhr beendet, im Ruhrstadion neigt sich die Halbzeitpause dem Ende entgegen. Die Clubfans, die bereits vor Ort waren, hatten sich im Verlauf der ersten Hälfte mit uns am Bahnhof solidarisch gezeigt und, so hörte man, in großen Teilen den Block verlassen. Das fühlte sich irgendwie gut an, auch wenn das unsere Lage natürlich nicht konkret verbesserte. Auch Bochum hatte schnell noch ein Spruchband gemalt. Danke für Eure Solidarität!

Es ist etwa 14:10 Uhr, als sich der Zugfahrer*innen-Haufen am Bochumer Bahnhof in Bewegung setzt. „Ostdeutschland! Ostdeutschland!“ schallt es knackig über die Straße. Normalerweise sind diese Gesänge überhaupt nicht mein Ding, heute ist mir das egal. Der Frust muss raus. Auf dem Weg zum Stadion rätseln wir noch, was uns wohl am Einlass erwarten wird. Großes Erstaunen dann, als vor Ort die Tore offen sind und wir einfach durchlaufen können. Tickets kontrolliert niemand, nach dem Affentanz am Bahnhof hätten wir alles mit ins Stadion schleppen können. Das soll verstehen, wer will. Würde ich mir jetzt den Aluhut aufsetzen wollen, könnte ich mir natürlich überlegen, dass das Kalkül war. Ein Wurfgeschoss in den Heimbereich und zack! laufen draußen die Wasserwerfer auf Hochtouren und hat die Polizei einen handfesten Grund, sich sportlich zu betätigen. Auch Aluhüte sind aber nicht mein Ding, also lassen wir das lieber.

Wie eingangs erwähnt, sind die Gesänge brachial und die 20 Minuten, die wir vom Spiel sehen, ein einziger Abriss. Eine DDR-Fahne hängt im Fangnetz, etliche Clubfans sitzen auf dem Zaun, etliche andere donnern unten an die Plexiglaswand. Unter normalen Umständen wäre das ein großartiger Pöbel-Auftritt geworden, hier und heute spielt Fußball nur eine untergeordnete Rolle. Irgendwann macht Bochum das 4:1, was mir völlig egal ist. Gleiches gilt für das Tor von Christian Beck zum 2:4 aus unserer Sicht, was faszinierender Weise nach einer Ecke fällt.

Abpfiff. Noch kurz mit den Jungs aus dem Fanclub gequatscht, die mit dem Auto angereist waren, sich aber auch solidarisch zeigten und das Spiel bis zu unserer Ankunft in der Kneipe schauten. Auch dafür ein großes Dankeschön, Ihr Bekloppten!

Nach 20 Minuten Fußball steht der Fußmarsch zurück zum Bahnhof an, inzwischen bin ich seit 11 Stunden auf den Beinen. Den Orden für den Held des Tages verdient sich der Beamte im Lautsprecherwagen, der sich nicht nur für die gute Zusammenarbeit (ich hoffe sehr, er meinte „auf dem Rückweg“) bedankte, sondern sich nicht zu blöd war, den Zugfahrer*innen dann auch noch „ein schönes Rest-Wochenende“ zu wünschen. Ich weiß nicht, wie man auf solche Wendungen kommt und kann mir das nur mit blankem Hohn erklären. Du siehst 20 Minuten vom Spiel, kriegst außerdem 2:4 auf die Mappe, kannst am kommenden Wochenende absteigen und kriegst dann noch ein schönes Restwochenende mit auf den Weg. Alter. Löscht Euch doch einfach.

Die Zeit bis zur Rückfahrt vergeht dann weitgehend ereignislos, wenngleich es auf dem Gleis und nebenan noch das eine oder andere Wortgefecht gibt. Hinten am Zug ist kurz noch etwas mehr los, von unserem Abteilfenster aus ist allerdings nicht zu erkennen, was. Und irgendwie bin ich mächtig erleichtert, als die Kiste dann einfach losrollt und wir Bochum Stück für Stück hinter uns lassen.

Was für ein richtig beschissener Tag. Aber: Wo Schatten ist, ist ja immer auch irgendwie Licht, und deshalb soll der Text hier auch auf einer positiven Note enden (weshalb ich mir Ausführungen zur sportlichen Situation an der Stelle mal komplett klemme):

Vielen Dank, Block U und hier insbesondere Martin für die großartige Organisation des Sonderzuges! Trotz der reichlich bescheidenen Begleitumstände habe ich die Fahrt und die vielen, guten Gespräche und Bekanntschaften sehr genossen. Ein großer Dank auch an alle, die da auf dem Bahnsteig die Ruhe bewahrt haben; gleiches gilt für die Vorsänger, die hervorragend deeskaliert haben, während die Pläne der Polizei wohl in eine ganz andere Richtung gingen. Danke auch an die Clubfans im Stadion für die Solidarität; es ist schön, zu sehen, dass wir zusammenhalten, wenn es darauf ankommt. Und natürlich ein riesiges Dankeschön an die Fanhilfe Magdeburg für ihren Einsatz! Eure Arbeit ist unfassbar wichtig und wertvoll, das kann ich gar nicht oft genug betonen.

Ein Fazit zum Tag ist schwierig, dazu arbeiten die Geschehnisse in mir noch zu sehr. Vielleicht nur so viel: Egal, was passiert, egal, wer uns wann, wo und wie schikanieren will, egal, was kommt, wie die sportliche Entwicklung verläuft und was auch immer sonst noch so passiert, eins hat mir der Tag gestern ein weiteres Mal klar und deutlich vor Augen geführt:

Wir sind die Größten der Welt. Niemand sonst. Eine geile Fanszene sind wir sowieso und emotional vielleicht gestern noch mal ein gutes Stück zusammengerückt. Jedenfalls geht mir das so. Und der 1. FC Magdeburg, der wird ja ohnehin niemals untergehen. Niemals! Aber das wusstet Ihr natürlich bereits.

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