Intro
Es gibt für einen Nachwuchsstürmer sicherlich kleinere Fußstapfen als die von Joachim Streich. Trotzdem gelang dem damals 18jährigen Markus Wuckel im ersten Jahr nach dem Karriereende des DDR-Rekordtorschützen direkt der Sprung in die erste Mannschaft des 1. FC Magdeburg und ins Sturmzentrum der Größten der Welt. In 118 Oberliga-Partien, die er ab der Saison 1985/86 für Blau-Weiß bestritt, erzielte er 46 Tore und schoss sich so schon bald in die Herzen der Anhängerschaft. Nach dem Ende der DDR-Oberliga verschlug es Wuckel unter anderem nach Göttingen, Oldenburg, Essen und Bielefeld; heute trainiert er die Damen-Mannschaft des DSC Arminia in der 2. Bundesliga. Ich traf Markus Wuckel Anfang März 2017 auf der Bielefelder Alm zum Gespräch.
Teil 1: “Das war so ein Spiel, da lief mir das Blut aus den Stutzen raus.”
Alexander Schnarr (AS): Ich muss ganz am Anfang gleich mal eine kleine Verwirrung aufklären, die mir kam, als ich zur Vorbereitung in Deinen Wikipedia-Eintrag geschaut habe. Du bist ja in Blankenburg geboren, nicht?
Markus Wuckel (MW): Also in Thale bin ich geboren, Wienrode ist der Heimatort und bei Stahl Blankenburg hab’ ich dann mit dem Fußballspielen angefangen.
AS: Aber Dein Debüt in der DDR-Oberliga hast Du ja bei Stahl Brandenburg gegeben. Wie kam das?
MW: Das war so: Joachim Streich sollte aufhören. 1979 bin ich nach Magdeburg auf’s Internat gegangen und dann war das so, dass ich [1985, AS] die Nummer 9 von Joachim Streich erben sollte, aber er hatte sich dann entschieden, noch ein Jahr länger zu spielen. Daraufhin bin ich dann für ein Jahr, um Spielpraxis zu bekommen, nach Brandenburg gegangen. Die waren gerade aufgestiegen in die Oberliga und dann konnte ich dort mit 17 schon ein Jahr 1. Liga spielen. Und dann hat Achim aufgehört, ist Trainer geworden und ich bin gleich wieder zurück.
AS: Und da erübrigt sich fast schon meine zweite Frage. In der Vorbereitung des Gesprächs habe ich nämlich überlegt, dass für DDR-Verhältnisse ein Wechsel von Brandenburg zum FCM ja jetzt nicht unbedingt so naheliegend war. Man hat ja eigentlich immer versucht, die lokaleren Talente zu den Fußballclubs zu lotsen und da hab ich mir so gedacht: “Warum ist Markus Wuckel nicht in Berlin gelandet?”. Aber Du warst dann da in Brandenburg geparkt, oder wie war das gedacht?
MW: Genau.
AS: Und wie lief das konkret ab zu der Zeit? War das dann so, dass man Dir gesagt hat: “So, Du spielst jetzt dann wieder beim FCM” oder wie muss man sich das vorstellen?
MW: Naja, ich war ja, wie gesagt, in Magdeburg von 1979 an im Fußball-Internat und hab’ diese KJS-Zeit mitgemacht. Und dann war es so, dass ich dann schon hätte Männer spielen können. Achim hat aber gesagt, er macht noch ein Jahr, sodass sie mich dorthin ausgeliehen haben, so heißt das ja heute. Dann habe ich dort spielen können und bin anschließend gleich wieder zurück. Brandenburg war auch so ziemlich das nächste in der Umgebung.
AS: Alles klar, also hat man damals tatsächlich schon so die Talente ausgeliehen. Das ist ja so ein bisschen, wenn Du so willst, das Chelsea-Modell, nur in der Jugend, dass Leute erst mal irgendwohin verliehen werden.
MW: Genau, und das zu der Zeit, ne? (AS: Genau) Das war… wann war denn das?
AS: Naja, ‘85 ist das hier in meinen Notizen, 85/86 warst Du ja dann schon wieder beim Club.
MW: 1985, und da haben sie schon Spieler geparkt, ne? Naja, es gibt sowieso Sachen, die haben wir damals schon gemacht. Also wenn wir jetzt schon dabei sind mit “alt” und “neu” und so… alle sprechen ja heute überall von diesem “Pressing”, nicht? Und Joachim Streich, der war ja von Haus aus ein fauler Spieler. Der war ja da so im Strafraum und wartete, und wenn er dann die Dinger gekriegt hat, dann hat er sie halt reingemacht. Der hat zu mir damals mal gesagt: “Du musst vorne schon den Ball erobern, sprinte lieber zweimal fünf Meter hin und her, dann hast Du ihn, als wenn Du erst 60 Meter zurück läufst und dann wieder vor. So sind es 10 Meter, so sind es 120. Mach’ vorne!”, sagt er. Das war 1985, da hat er mir das Pressing erklärt, aber aus der Form heraus, dass er eigentlich zu faul war, und er hat gesagt: “Entweder, ich hab’ den gehabt nach 5 Metern…”, ansonsten ist er stehen geblieben und langsam zurückgegangen. Aber der hat im Prinzip das moderne Pressing schon damals erfunden (*lacht*). Ich muss immer lachen heute…
AS: Ja, das sagt man ihm ja nach, dass er nicht so viel geschwitzt hat. Aber war ja auch egal, die Quote hat er ja gebracht. Könnte man dann sagen, dass Du im Prinzip in der Jugend schon gezielt aufgebaut wurdest als Nachwuchsmittelstürmer für Achim Streich? Wenn das sozusagen auch der Plan war, Dich erst mal noch ein Jahr woanders hinzubringen?
MW: Naja, von 1200 Kinder aus dem Jahrgang sind 16 auf’s Fußballinternat gekommen und waren dann eine Mannschaft und eine Klasse. Von denen bin ich der einzige, der dann auch durchgekommen ist, weil ja doch viele rausfallen. Aber bei denen, die dann in den bezahlten Fußball gekommen sind, war das schon so, dass das gezielt aufgebaut war. Wer sich dann da durchgesetzt hat… man hat aber auch Glück gehabt, dass Achim dann aufgehört hat vom Alter her. Wenn ich jetzt 6, 7 Jahre jünger gewesen wäre, wäre man vielleicht nicht so reingerutscht. Das gehört auch dazu, genauso, wie verletzungsfrei durchzukommen. Wir haben ja da dreimal am Tag trainiert, in der Vorbereitung viermal am Tag. Heute trainieren manche vier Mal in der Woche und wir haben das damals an einem Tag gemacht. Das merkt man natürlich heute auch an den Knochen, da wurde sehr auf Verschleiß trainiert (*lacht*).
AS: Wie waren denn der Kontakt und die Durchlässigkeit so zwischen dem Jugendinternat und der ersten Mannschaft?
MW: Das war schon gut, da waren Heiko Bonan und Uwe Kirchner und so, da gibt es ja etliche, die dann durchgekommen sind. Stefan Minkwitz, Jens Gerlach, die aus dem eigenen Nachwuchs kamen. Es war zwar so dieser Bezirk Magdeburg, auch wenn viele noch aus Schwerin und Wismar und so kamen, aber man musste ja eigentlich mit dem leben, was aus der Region kam. Es waren ja nur die beiden Dynamo-Vereine, BFC und Dynamo Dresden, die von überall aus Deutschland her ihre Topspieler gekriegt haben, so wie jetzt Thomas Doll, der von Rostock zu Dynamo ging. Und wir mussten halt aus unserer Region leben. Das, denke ich mal, ist aber ganz gut, weil man dann ja verbunden ist. Harz und Magdeburg, das ist ja alles zusammen und ich glaube, wenn man dann im Internat war und mit dem Club groß geworden ist im Prinzip… man war ja Balljunge, und dann hast Du als Fan auch mal in der Kurve gestanden. Dann kann ich mich dran erinnern, sind wir mal nach Berlin gefahren zum Pokalfinale, aber frag’ mich nicht mehr… man hatte halt von Kindheit an Magdeburg, den FCM und dann hat man den natürlich auch auf dem Platz anders gelebt, nicht? Deswegen bleibt das auch ewig eigentlich der Verein, wo das Herz am meisten für schlägt, denke ich mal. Mit 11 Jahren bin ich ja da hingekommen… das war ein bisschen früh. Also… ich sag’ mal so, heutzutage würde ich das nicht mehr machen, das gibt’s ja auch gar nicht mehr, dass die da mit 11 Jahren auf’s Internat kommen, aber naja…
AS: Und dann wurde Achim Streich direkt Dein Trainer (MW: Jau!), Dein direkter Vorgesetzter sozusagen in Deiner ersten Saison. Wie war das? Hintergrund der Frage vielleicht: Ich hatte gelesen, dass das für Achim Streich auch so ein bisschen ein Holterdipolter-Übergang war, vom Aktiven sofort zum Cheftrainer, und dann kann ich mir vorstellen, dass es vielleicht auch noch eine Zeit war, in der man vielleicht ‘74 und die ganzen glorreichen Siebziger noch so im Hinterkopf hatte… Wie war denn das für Dich als achtzehnjähriger Neuankömmling in der 1. Mannschaft mit Achim Streich als Trainer und überhaupt?
MW: Also erstmal ist es ja zu der Zeit so gewesen, dass es ja Hierarchien gab. Und wenn man da mit 18 reinkam, musste man erstmal alles schleppen für alle, man ist nicht auf die Massagebank gekommen… das musste man dann erst mal überstehen. Ja, und das war natürlich auch mit Achim Streich so. Was der vor dem Tor gemacht hat, ja? Da habe ich eigentlich auch das meiste gelernt. Diese Abschlüsse und den Haken, den auch er immer gemacht hat und dann konnte ich ja, wie er auch, links und rechts schießen, Kopfball das gleiche… Wir waren auch beide nicht sehr groß, sind dann aber auch da hingegangen, wo der Ball dann eben auch hinkommt. Das ist ja auch Instinkt, den hatte man vielleicht schon ein bisschen, aber ja: Ich muss sagen, von dem habe ich am meisten gelernt.
AS: Hattest Du das Gefühl, als Du dort dann Teil der 1. Mannschaft warst, dass das Umfeld immer noch eine große Erwartungshaltung hatte? Ich mein’, da sind ja dann schon auch mal 25.000 ins Stadion gekommen…
MW: Aber zu der Zeit war das nicht so. Da waren viele Ältere, Paule Seguin zum Beispiel, die haben ja alle so zu der Zeit aufgehört, das war ja alles ein großer Rutsch. Dann Mewes noch und dann war es ja klar, dass man erst mal noch ein bisschen was aufbauen muss. Viele Junge sind dazu gekommen, dann hatten wir so eine Achse mit Dirk Heyne, Dirk Stahmann, Maxe Steinbach zentral und mir vorne, drumrum wurde dann gebaut. Ja, ich denke, da haben wir dann nachher schon auch ganz gut gespielt. Aber die Erwartungshaltung ist ja immer groß, wie in dem Lied: “Wir sind die Größten der Welt!” Das ist so, das bleibt auch immer so, ne? Und selbst in der Zeit, in der sie dann in der 4. Liga oder was weiß ich wo waren, da haben sie das trotzdem immer noch gesungen. Naja…
AS: Aber Du warst ja auch gleich Stammspieler, oder? Ich hab’ mir mal so die Statistiken angeschaut, das ging ja relativ schnell.
MW: Naja, die Position war ja auch frei, ne? Und ich hatte, glaube ich, auch nicht so die Konkurrenz zu der Zeit.
AS: Naja, der Uwe Rösler kam ja dann später noch dazu, sozusagen das großes Sturmduo… Kannst Du Dich noch an Dein erstes Tor für die erste Mannschaft erinnern?
MW: Nee! Weißt Du’s?
AS: Klar, ich hab’s mal rausgesucht. Das war am 30.11.1985 beim FC Karl-Marx-Stadt, aber jetzt frag’ mich nicht… ich glaube, 2:0 habt Ihr da gewonnen (MW: In Karl-Marx-Stadt?), wenn ich das richtig recherchiert habe… genau. Du warst ja schon auch noch saujung, oder? Wie muss man sich das denn vorstellen, als FCM-Spieler zu der Zeit in dem Alter so in der Stadt zu leben? Gab’s da auch so einen Star-Rummel, wie man sich das heute so vorstellt, wenn Leute mit verdunkelten Sonnenbrillen irgendwo durch die Gegend huschen? Wie hast Du das erlebt, so die Zeit insgesamt?
MW: Also es gab ja schon Vorteile dadurch, ne? Das ist zwar schon lange her, aber ob das jetzt irgendwie Diskos oder Restaurants waren… man kam ja nicht überall rein, da waren ätzend lange Schlangen vor den Läden, die angesagt waren oder im Interhotel unten in der Bar oder sowas, da kam ja nicht jeder hin. Man hatte da schon Vorteile und war auch bekannt. Ja, das war zu meiner Zeit auch so ‘ne Wahnsinnseuphorie. Ich weiß, die sind aus dem Harz und von überall angereist zu den Spielen, ich hab so viel Karten immer besorgt und alle haben die Klamotten gehabt. Ich hab ja zu ner Zeit U19 gespielt, U21, Olympiaauswahl und A… ich hab’ vier Nationalmannschaften gespielt, das war ja irre. Und da war das so, da war natürlich auch immer Einkleidung. Ich weiß, in meinem Dorf hatten alle DDR-Nationalmannschafts-Klamotten, so die blauen Dinger. Selbst der Schäfer hat ‘nen Adidas-Anzug gehabt… also, das war unglaublich. Das waren ja Mengen, waren das ja. Und das mit 18, ne? Aber das war auch schon das eine Jahr in Brandenburg so, als die da aufgestiegen waren. “Stahlfeuer”, da war die Hütte voll. Das war eben auch noch eine Zeit, in der es noch nicht viel gab. Außer Fußball gab es nicht viele andere Sachen da, gerade auch in Brandenburg. Ja, wir hatten auch gute Zuschauerzahlen, war schon gut.
AS: Was sind denn so Deine sportlichen Highlights, Deine prägnantesten Erinnerungen, wenn Du so schlaglichtartig zurückblickst?
MW: Athletic Bilbao, ne? Das war schon ziemlich früh, gerade in Bilbao, gerade als ganz junger Bengel. Oder zuhause, da hab’ ich noch gegen Goikoetxea gespielt, der hatte ein paar Wochen vorher Maradona das Schienbein gebrochen und kurz danach haben wir dann gegeneinander gespielt. Das war so ein Spiel, da lief mir das Blut aus den Stutzen raus. Da haben wir uns ordentlich getreten, das weiß ich noch. Ja, aber es waren viele Spiele, ne? Die man auch als Stürmer dann oftmals durch Tore entscheidet. Aber auch damals war es schon so, wenn die Derbys gegen Halle oder sowas anstanden… wenn Du in Halle gewonnen hast, das war schon was. Ja, und dann natürlich die Spiele in Dresden oder gegen BFC Dynamo, das hat schon richtig Spaß gemacht.
AS: War das mit dem BFC wirklich so, dass der Schiedsrichter dann doch auch mal das eine oder andere Auge zugedrückt hat, dass dann da mal länger gespielt wurde und so? War das wirklich so ein offenes Geheimnis, dass die möglichst immer gewinnen sollten?
MW: Ja, doch, also das war gesteuert, denke ich. Also das hat man auch… ich weiß nicht… man hat sich das ja nicht eingebildet, das hat man in vielen Situationen schon gemerkt. Und ich glaube auch, das war einmal in Magdeburg, da haben die wirklich gespielt, bis die das Tor gemacht haben. Da wollten sie dann wirklich den Schiri lynchen, da wollten sie das ganze Ding auseinander nehmen, und da ist das dann fast eskaliert. Ja, aber gegen die war man immer besonders motiviert, “Bayern München des Ostens” zu der Zeit…
AS: “Schmerzhafteste Niederlage” habe ich hier noch so als Stichwort… irgendwas, wo Du sagst, “Boah!”, so aus dem Kopf?
MW: *überlegt lange* Naja, ich bin ja heute noch ein schlechter Verlierer, aber zu der Zeit als Stammspieler in Magdeburg war das ja so: Freitag bist Du auswärts gefahren oder so, Hotel, Samstag hast Du gespielt, dann bist Du Sonntag zu irgendeiner Auswahl angereist, dann warst Du bis Dienstag da irgendwo in irgendeinem Land, mittwochs bist Du dann zurückgeflogen, hast dann gespielt, entweder die Nacht noch zurück oder Donnerstag zurück, die Taschen noch gewechselt, Freitag wieder der Club und wieder nächstes Spiel. Du hast gar keine Zeit gehabt. Wir haben eigentlich nur immer die Taschen getauscht, das war ja irre. Und da habe ich eigentlich auch gar nicht so nachgedacht… wenn ich mir mal so Sachen durchlese oder so, dann erinnert man sich vielleicht, aber generell kann ich jetzt nicht sagen, dass es irgendwie eine prägnante Niederlage gab.
AS: Ja, das klingt schon auch alles stark durchgetaktet. Offiziell wart Ihr ja alle Amateure und irgendwo angestellt, aber mal Hand aufs Herz, das war Profibetrieb, oder? (MW: Klar!) Was Du denn eigentlich offiziell dort in Magdeburg gemacht?
MW: Also ich war im Dimitroff-Werk. Und ich hatte ja auch Angebote gehabt aus Jena und so; die haben ja da zu der Zeit dann ein Haus und ein Auto angeboten. Die haben Unsummen rausgehauen und wollten mich unbedingt holen. Die haben zu der Zeit auch immer Europacup gespielt, der FCM hatte aber dagegen gehalten und dann haben die mir ein Reihenhaus besorgt und haben mich angestellt im Dimitroff-Werk, das weiß ich noch. Die anderen waren alle im Thälmann-Werk und ich war im Dimitroff-Werk, weil’s da mehr gab für mich. Da hatten sie einen Schrank, da haben sie ein Schild mit meinem Namen draußen dran gemacht und einen Blaumann reingehangen. Das werde ich nie vergessen! Und dann hatte ich meinen Arbeitsvertrag und hab’ da auch das Geld vom Werk gekriegt, das war’s. Mit 18 Jahren habe ich da so gedacht: “Wieso hängen die mir da jetzt meinen Blaumann rein?” Ja, das war… es gab ja nur das Profitum, ne?
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