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Tickerleiden

Zitterpartie in Wiesbaden

SV Wehen Wiesbaden – 1. FC Magdeburg, 33. Spieltag, 0:0 (0:0)

Nun hat er in dieser Saison doch noch seine Premiere erlebt, der Live-Ticker des 1. FC Magdeburg. Vor der letzten Begegnung in Wiesbaden hatte ich zwar schon vier weitere Partien nicht vor Ort verfolgen können, dafür aber wenigstens halbwegs akzeptable Alternativen zum Stadionbesuch zur Verfügung, nämlich eine Radioübertragung (Stuttgarter Kickers – herrlich ‘old school’), einen Livestream (Osnabrück – das Gegenteil von ‘old school’) und eine reguläre Fernsehübertragung (Dynamo Dresden). Oder ich habe mangels Fernseh-, Mobilfunk- oder Radiosignal überhaupt nichts mitbekommen (das Heimspiel gegen Aalen – vielleicht aufgrund des unglücklichen Spielverlaufs ganz gut so). Am 33. Spieltag galt es nun also, seit langer Zeit wieder mal auf die textbasierte Berichterstattung zurückzugreifen, die mich in den vergangenen Spielzeiten bereits durch einen guten Teil der Auswärtsspiele geführt hatte. Zwar bot der MDR auch diesmal wieder einen Livestream an, nur nützt der einem wenig, wenn man zum Zeitpunkt des Spiels in Intercity-Zügen der Bahn durch die halbe Republik gondeln muss. Es folgt also: Die Chronologie einer Bahnreise.

Jeder Spieltag hat ja so seine Abläufe, und wenn man schon nicht im Stadion sein kann, wirft man natürlich trotzdem gut anderthalb Stunden vor dem Spiel – kurz hinter Wolfsburg – das erste Mal den Ticker an. Gähnende Leere – “(null) (null):(null) (null)” verkündet das Smartphone-Display. Die Gedanken schweifen nach Wiesbaden. Vermutlich tummeln sich jetzt schon einige Blau-Weiße auf dem Hauptbahnhof und wäre man selbst gerade eingetroffen, um dann die restlichen paar Meter bis zum Stadion zu Fuß zurückzulegen. Oder man wäre gerade mit den Jungs auf den Gästeparkplatz eingebogen. In jedem Fall wäre das aufgrund der weitgehenden Abwesenheit einer gegnerischen Fanszene vermutlich alles ziemlich adrenalinfrei über die Bühne gegangen – abgesehen natürlich von dem gewöhnlichen Level an Anspannung, das einen vor Anpfiff einer Partie der Größten der Welt ja sowieso begleitet. Während eine Bahnangestellte im IC versucht, lauwarmen Kaffee für knapp drei Euro an den Mann oder die Frau zu bringen, stelle ich fest, dass ich es am Spieltag und dem davor nicht mal geschafft hatte, in den (digitalen) Blätterwald zu schauen, um mich hinsichtlich blau-weißer Neuigkeiten auf dem Laufenden zu halten. Ein Blick auf das Smartphone-Display offenbart Edge und einen Balken – dann eben nicht, allzu große Überraschungen, Skandale oder Putschversuche wird es seit Mittwochabend schon nicht gegeben haben. “Nächster Halt unseres Zuges: Hannover Hauptbahnhof” knarzt es aus den Zug-Lautsprechern. Also schnell zusammenpacken, noch mal eben aktualisieren – und siehe da, es erscheint Text. Das Tickerteam kündigt an, ab 19 Uhr live aus Wiesbaden zu berichten. “Bis dahin. Sport frei.” Ausstieg in der Stadt des designierten Bundesliga-Absteigers.

Zug wechseln, Platz finden, Telefon einstöpseln, alles in einer fließenden Bewegung – regelmäßige (Auswärts-)Fahrten schulen irgendwann. Zwischendurch der Blick auf die Twitter-Timeline: Der FCM vermeldet “Ankunft in Wiesbaden”, die Auswärtsfahrer brauchen noch, befinden sich aber auch immerhin schon in der Nähe, wie geteilte Fotos mit entsprechenden Markierungen an Autobahnraststätten belegen. 18:08 Uhr. Was anfangen mit der Zeit bis zum Anpfiff? Nervöses Auf-und-Ab-Laufen im Waggon verbietet sich, es ist Freitagabend und der Zug entsprechend voll. Dann vielleicht lieber noch ein wenig an einem der kommenden 120minuten-Longreads feilen. Es soll um Traditionspflege und Erinnerungarbeit bei ehemaligen DDR-Oberligisten gehen, natürlich spielt da auch der Club eine Rolle. Zuarbeit gibt es von Julien aus Frankreich, der in Brüssel lebt und kürzlich in recht kurzer Zeit eine ganze Menge Spiele ostdeutscher Clubs besucht hat. Spannend, was jemand berichtet, der mal von außen auf die ganze ‘Ostalgie’- und ‘Oberliga 2.0’-Chose schaut. Währenddessen steigt die Anspannung, schließlich trudelt die Aufstellung ein. Der 120minuten-Text muss warten.

Der erste Gedanke beim Blick auf die erste Elf: “Oha, das ist aber ordentlich defensiv heute”. Der zweite: “Oha, Hammann nur auf der Bank?” Von der Aufstellung her könnte man vermuten, dass Jens Härtel diesmal im 5-4-1 beginnt: Michel Niemeyer links, Christopher Handke, Steffen Puttkammer und Silvio Bankert im Abwehrzentrum, Nils Butzen rechts. Davor Jan Löhmannsröben und Marius Sowislo, auf den Flügeln Manuel Farrona Pulido links und Tarek Chahed rechts, ganz vorn natürlich Christian Beck. Blöd diesmal: Der Ticker wird das vermutlich nicht auflösen und selbst ist man ja nicht im Stadion. Hmpf. Trotzdem bietet die Aufstellung natürlich allerlei Anlässe zum Nachdenken, was gut ist, es sind ja immerhin noch 30 Minuten zu überbrücken. Schön auf jeden Fall, dass Tarek Chahed wieder in der Startelf steht; gleiches gilt für Michel Niemeyer und es ist irgendwie bemerkenswert, dass er Nico Hammann für dieses Spiel aus der Anfangsformation verdrängt hat. Cool, dass Bankert mal wieder von Anfang an das Vertrauen bekommt. Das ist ja sowieso ein guter Typ. Wie gern wäre ich jetzt im Stadion.

Da es auch im Liveticker noch nichts groß Neues gibt, bleibt genug Zeit, mal die Pressemeldungen der letzten Tage zu scannen. Viel gibt es offenbar nicht zu berichten. Die Volksstimme schaut mal wieder auf den aktuellen Kader, die BILD hat irgendwas mit Abschiedsspielen und setzt außerdem Maximilian Jansen vom Halleschen FC aufs Transferkarussell. Von mir aus. Sagt mir jetzt erstmal nicht so wahnsinnig viel, scheint aber ein interessanter Spieler zu sein. Kommt auf Wiedervorlage. Noch 10 Minuten bis zum Anpfiff.

Der Ticker berichtet nun live aus dem Stadion, in das 12.500 Menschen passen und das an diesem Abend wohl von ca. 500 blau-weißen Schlachtenbummlern bevölkert wird. Laut scheint es auch zu sein, aber nicht (notwendigerweise) im Gästeblock, sondern vor allem aus den Stadionlautsprechern. Nervig, das, aber Würzburg ist halt nicht überall. Die Mannschaft bekommt offenbar Applaus von den mitgereisten Clubfans und drei Minuten vor Anpfiff verabschiedet sich erstmal das Netz. Hallelujah. Die nächste Aktualisierung gibt es erst wieder in Kassel-Wilhelmshöhe. Tore sind offenbar noch keine gefallen, dafür scheint der Club den besseren Start erwischt zu haben. Wobei, Bankert, Niemeyer und Glinker waren auch schon gefordert. Undurchsichtig, das alles und wenig befriedigend – was allerdings nicht am Ticker liegt, sondern an der eher uncool-muffigen Atmosphäre in einem Fernverkehrszug der Deutschen Bahn, der seine besten Zeiten schon ein wenig länger hinter sich an.

“10. Minute: Es läuft viel über die linke Seite und nun foult Pezzoni Chahed…Freistoß ca 40 Meter vor dem tor.”

Chahed links heute? Aha. Zumindest mit der Fünfer-Abwehrreihe scheine ich aber richtig gelegen zu haben. Twitter bietet derweil ein interessantes Kontrastprogramm zum eigenen Ticker – das Spiel aus Sicht des SV Wehen Wiesbaden nämlich. “7. min 0:0. FCM stört früh, #SVWW aber bislang mit sicherem Passspiel. Das wird viel Geduld brauchen, die Lücke zu finden.” ist da unter anderem zu lesen. Recht so. Das Hin- und Herschalten zwischen Ticker und Twitter artet so langsam in Arbeit aus, hat aber seinen Charme. Auf dem Feld scheint es jedenfalls kerniger zu werden. Fouls hier, Elfmeterforderungen dort und beide Perspektiven gleichzeitig – live im Stadion hat man das in der Regel ja nicht, trotzdem wäre mir ein Stehplatz im Block jetzt deutlich lieber als ein Sitzplatz im Zug. Aber hey.

Wiesbaden nun offenbar mit mehr Druck und einigen Standards, die aber glücklicherweise ohne Ertrag bleiben. “Wir haben in den letzten Minuten das Spiel aus der Hand gegeben”, schreibt der Ticker. “Ein zähes Ringen mit leichten Vorteilen für den engagierten #SVWW, aber nach vorne fehlt beiden Teams die Klarheit”, heißt es derweil aus dem Wiesbadener Lager. In der 27. Minute die erste Parade von Jan Glinker, die zu einer Ecke und postwendend zur zweiten guten Gelegenheit der Gastgeber führt. Unser Keeper hat den Ball aber auf der Linie. Beim SVWW irgendwas mit “Dams völlig frei aus 4 m”. Im Zug gibt es erste Überlegungen, Polster zu malträtieren. Die gute Nachricht scheint zu sein, dass wir wenigstens vor allem nach Standards Gefahr entwickeln – die schlechte ist, dass das auch für Wiesbaden gilt. Ansonsten stand wohl heute als taktische Anweisung “lange Bälle” auf der Tafel in Gästekabine – was mir recht sein soll, solange in den jetzt noch 55 Minuten mal einer davon zu einem Tor für die Guten führt. Weitere Erkenntnis: Zwischen Wabern und Treysa gibt es offenbar Funklöcher epischen Ausmaßes. Wehen Wiesbaden führt uns dafür immer noch als Aufstiegs-Aspiranten, kurz darauf ist Halbzeit. Während mein Ruhepuls bei ungefähr 200 liegt, fasst der @slaukopp das Spiel folgendermaßen zusammen:

Im Liveticker ist man ob der 1. Halbzeit eher verhalten (“Wir machen mehr im Spiel, aber die besseren, torgefährlicheren Chancen hatte Wiesbaden”), ganz anders als im Social-Media-Bereich des 1. FC Magdeburg, wo man “beste Chancen durch Puttkammer und Pulido für Magdeburg” gesehen hat. Während der Zug in Marburg einrollt, beginnt in der hessischen Landeshauptstadt die zweite Halbzeit. Beide Mannschaften unverändert, der SVWW aber offenbar mit den stärkeren Uppern im Pausentee und sofort im Vorwärtsgang. Jens Härtel schaut wohl schon mal auf die Uhr, noch sind aber 35 Minuten zu spielen. Im Liveticker sind derweil erste Eskalationen zu vernehmen – das klingt ja alles weniger schön. Zeit, zusammenzupacken. Der nächste Bahnhof ist meiner.

Der Heimweg wird dann zur Tortur. Nicht nur, weil natürlich alle 10 Meter angehalten und nachgeschaut werden muss, was sich in Wiesbaden getan hat, sondern auch, weil die Tickermeldungen nicht unbedingt besser werden. Gleiches gilt für die Zuversicht in der Twitter-Timeline. Mit dem Aufschließen der Wohnungstür dann auch der Abpfiff in Wiesbaden – und nach allem, was man danach so zu lesen bekam, einem glücklichen Punktgewinn für die Größten der Welt:


Fazit: Der FCM nimmt einen Punkt aus Wiesbaden mit und weiß offenbar gar nicht so genau, wie das eigentlich passieren konnte. Und ich? Ich bin heilfroh, die restlichen Partien der Saison – sofern nichts völlig Unvorhergesehenes passiert –  wieder mit eigenen Augen im Stadion erleben zu dürfen. 

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